Im Zuge der fachdidaktischen Veranstaltungsreihe Littératie | Litéracie, die sich im Wintersemester 2019/2020 der Kompetenz Schreiben widmet, fand am 19. November ein interaktiver Vortrag zum Thema OULIPO – Schreiben nach Bauplan statt. Es ging um Lyrik und wie man sie in der Schule zum kreativen Schreiben nutzen kann.
In der Schule wird das kreative Schreiben oftmals dem Training der unterschiedlichen Textsorten untergeordnet. Dass die Kreativität in einer Sprache jedoch nicht zu kurz kommen darf, zeigen Situationen der Sprachverwendung in der Realität. Man muss auf die Aussagen seines Gegenübers reagieren, dabei kreative Möglichkeiten finden und gegebenenfalls sprachliche Schwächen kompensieren. Lyrik ist dabei – vor allem bei jungen Menschen – vielfach ein No Go. Eine Gedichtanalyse ist schließlich was Fades. Die lyrischen Texte längst vergangener Tage wirken angestaubt und werden in ihrer Tiefe nicht erkannt. Selbst Gedichte zu schreiben, ist den Schüler*innen sehr fern. Dass Poetry Slams und Rap-Songs auch Lyrik sind, wird dabei vergessen.
Gerade auch der Einstieg in Lyrik wirkt schwierig. Ein ganzes Gedicht schreiben, das Versmaß einhalten, Reime setzen. Wer tut sich das denn überhaupt noch an? Dabei ist Lyrik vielfach ein Spiel mit der Sprache, dem man sich schon früh widmen kann. Ein Gedicht zu analysieren heißt, seine Strukturen und Inhalte Schritt für Schritt zu dekodieren. Ein Gedicht zu schreiben heißt, das Gleiche zu tun. Wir spielen mit der Sprache und ihren Elementen und Strukturen und verwenden dabei eine mathematische Herangehensweise. Dabei erlaubt uns gerade der literarische Anspruch auch Stilfiguren zu verwenden, die nicht immer eine sprachliche Korrektheit fordern.
Schreiben nach Bauplan
In ihrem Vortrag mit dem Titel OULIPO: (Literarisches) Schreiben im Zeichen von Spiel und Regel zeigte uns Astrid Poier-Bernhard (die den Begriff Texte nach Bauplan geprägt hat) einen spezifischen Zugang zu Literatur: jenen der OULIPO. Es handelt sich dabei um ein Akronym für Ouvroir de littérature potentielle (Werk einer potentiellen Literatur). Die Vertreter von OULIPO haben, Raymond Queneau und François Le Lionnais, haben sich der Literatur formelhaft und mathematisch genähert. Ging man im Mittelalter davon aus, dass Literatur eine der Artes ist, also eine erlernbare Fertigkeit, wurde dieser Gedanke in der Romantik durch den Genie-Anspruch abgelöst. Literatur ist etwas, das von Genies geschrieben wird.
Die Vertreter von OULIPO greifen den mittelalterlichen Zugang wieder auf und treiben sein Verständnis auf die Spitze. Sie unterwerfen ihr Schreiben einer Contrainte (einem Zwang), also eine Einschränkung, an die sie sich beim Schreiben halten. So schrieb George Perec einen Roman mit dem Titel La Disparition, ein Werk, in dem es um das Verschwinden geht. Tatsächlich verschwunden ist der Vokal e, der in diesem Werk nicht vorkommt, was umso erstaunlicher ist, als im Französischen die Wörter und (et), ist (est) und der bestimmte Artikel les (Mehrzahl – die) jeweils ein e enthalten. Raymond Queneau verfasste Cent Mille Milliards de Poèmes, eine Sammlung von zehn Sonetten, die man variieren kann.
Ab Minute 2:00 sieht man das Prinzip des Buches. Um die Gedichte vollständig zu lesen, würde man 190 Millionen Jahre benötigen.
Contraintes
Es gibt viele dieser Contraintes, die sich beim Sprachenlernen auf unterschiedlichen Sprachniveaus in die Realität umsetzen lassen. Einige der Contraintes erkennt man auf den ersten Blick, bei anderen muss man mehrfach hinsehen. Dabei kann es sich um formale Vorgaben handeln, wie beispielsweise das Halten an eine Form, oder auch um sprachliche, wie beispielsweise die Verwendung oder Auslassung einzelner Buchstaben. Einige Beispiele sollen hier genannt werden (französische Beispiele werden durch Klick auf die Contrainte gezeigt – auch wenn man kein Französisch kann, verdeutlichen sie die Contrainte)
- Abécédaire: Man schreibt einen Text und beachtet in der Abfolge der Wörter die Stellung der Buchstaben im Alphabet.
- Akrostichon: Man nimmt ein Wort, beispielsweise seinen Namen, und schreibt die Buchstaben untereinander auf ein Blatt Papier. Nun verfasst man einen Text, in dem der erste Buchstabe der Verszeile mit dem Buchstaben des Namens beginnt. In jeder Verszeile können dabei ein Wort oder mehrere Wörter stehen.
- Bivocalisme: Ein Text entsteht, in dem nur zwei Vokale verwendet werden dürfen.
- Monovocalisme: Ein Text entsteht, in dem nur ein Vokal verwendet werden darf.
- Logo-Rallye: Man überlegt sich zu einem Buchstaben eine gewisse Anzahl an Wörtern und schreibt diese auf. Die Reihenfolge, in der man die Wörter notiert hat, ist die Reihenfolge, in der sie im Text vorkommen müssen.
- Lipogramm: Ein Text, in dem es verboten ist, einen definitierten Buchstaben zu verwenden (La Disparition von G. Perec gilt als Paradebeispiel – der Roman kommt ohne den Vokal e aus).
- Palindrom: Ein Wort oder ein Text, der von vorne und von hinten gleich zu lesen ist.
- Tautogramm: Alle Wörter eines Textes beginnen mit demselben Buchstaben.
- S+7: Man schreibt einen Text. In einer zweiten Phase ersetzt man alle Substantive (S) des Textes mit dem siebten im Wörterbuch folgenden Substantiv und lässt so einen neuen Text mit fremden Sinn entstehen.
- V+7: Man schreibt einen Text. In einer zweiten Phase ersetzt man alle Verben (V) des Textes mit dem siebten im Wörterbuch folgenden Verb und lässt so einen neuen Text mit fremden Sinn entstehen.
Ein ähnliches Prinzip
- Haiku: Es handelt sich um ein dreizeiliges Gedicht, das dem Silbenmuster 5-7-5 entspricht.
- Elfchen: Ein kurzes Gedicht in fünf Zeilen: Zeile 1 besteht aus einem Wort, Zeile 2 aus zwei Wörtern, Zeile 3 aus drei Wörtern, Zeile 4 aus vier Wörtern und Zeile 5 wieder aus einem Wort. Hier einige Beispiele für Elfchen.
- Six Word Stories: Es handelt sich hierbei um Geschichten, die aus sechs Wörtern bestehen. Meist sind die Geschichten tragisch – Beispiele gibt es genug (Quelle 1, Quelle 2, Quelle 3).
- Emoji-Stories: Geschichten werden nur unter Verwendung von Emojis erzählt oder nacherzählt. Hier eine Sammlung von Märchen, die ich im Zuge meiner Fortbildungen erstellt habe. Auch hier gibt es zahlreiche Quellen – gerade in der Weihnachtszeit sind Lieder sehr beliebt.
Der Lerneffekt?
Nun, wenn man oulipotisch schreibt, nähert man sich der Sprache spielerisch. Man muss beispielsweise neue Vokabel suchen, wenn man sich ein Tautogramm als Ziel setzt. Man sucht nach Synonymen, die mit dem passenden Buchstaben beginnen. Hierfür kann ein Wörterbuch verwendet werden. Gleitet man mit den Augen über die Vokabelliste, so lernt man nicht nur das Vokabel, das man sucht besser kennen, sondern auch die Wörter die davor stehen. Das nennt sich inzidentelles Lernen. Ähnliches gilt für die Contrainte S+7.
Gleichzeitig legt man die Angst vor Lyrik ab, denn jede*r kann unter Einhaltung einer Contrainte schreiben. Wird der Text banal, so kann man der Contrainte die Schuld in die Schuhe schieben. In jedem von uns ist ein*e Poet*in versteckt. Jugendsprache ist ein Code, der ebenfalls als Contrainte gesehen werden kann. Die Liste der Vorgaben – ich mag den Begriff lieber als „Zwang“ – lässt sich beständig erweitern.
- Und dabei lässt sich ein Abécédaire oder ein Akrostichon schon früh in den Unterricht einführen. In der Zweitsprache schon auf A1. Wie wäre es beispielsweise, seinen Vornamen mit Adjektiven zu schreiben, die einen selbst (nicht) beschreiben.
- Oder wie wäre eine ABC-Liste mit all jenen Wörtern, die man schon kennt?
- Wie einfach ist eine Logo-Rallye, in der man eine beliebige Anzahl an Wörtern aufschreibt, die man nummeriert und in genau dieser Reihenfolge in einen Text packt? Eine Phase des Freewritings könnte dieser Übung vorangehen.
Die Möglichkeiten sind vielfältig und viele davon brauchen gar nicht viel Zeit. Ein paar Minuten reichen dafür schon aus. Wenn man die kurzen Texte auch noch graphisch aufbereitet – beispielsweise als Poster (z.B. mit Hilfe von Canva oder Adobe Spark Post), dann entstehen richtige Artefakte, die man als E-Book (z.B. mit dem Book Creator) gesammelt veröffentlichen oder aber ausdrucken und aufhängen kann. So wird die lyrische Produktion einer Klasse auch greifbar.
Mein Zugang
Meine Liebe zur Lyrik ist eine sehr alte. Ich habe in meiner Jugend viel geschrieben – hauptsächlich lyrische Texte. Zu meiner Zeit haben das viele Pubertierende gemacht. Wir hatten in der Schule aber einen Deutschlehrer, der uns im Schreiben bestärkt hat. Ich war zwar immer die, die am lautesten geschimpft hat, wenn es um Literaturunterricht ging, aber insgeheim habe ich die Literatur immer geliebt. Ich habe schließlich ja auch meinen Doktor in allgemeiner und vergleichender Literaturwissenschaft abgeschlossen (und wurde mit meiner Dissertation auf Wikipedia zitiert, was man – als ich es entdeckt habe – mit Stolz erfüllt hat).
Der Workshop hat dazu geführt, dass ich mich wieder hinsetze, um zu schreiben. Ich habe mich dabei dem Tautogramm verschrieben und hier sind drei meiner Texte. Sie alle sind ein wenig düster, das war mein Schreiben schon immer. Und ich gebe offen zu, dass es mir genauso viel Freude bereitet, wie in der Schulzeit.