Ich flippe gerne aus. Im Unterricht. Also ganz gesittet und zielgerichtet. 😉
Ich durfte heute an einem spannenden Webinar meiner zwei großartigen österreichischen Kollegen Joe Buchner (@Josef_Buchner) und Stefan Schmid (@hingeSCHMIDet) von Flipped Classroom Austria teilnehmen. Thema: Flipped Classroom. Und immer wieder kam die Frage, ob man den Flipped Classroom auch im Sprachunterricht einsetzen könne. Ja, kann man. Sehr gut sogar. Und das möchte ich jetzt in einem kurzen Blogpost auch ausführen.
Nun, was relativ modern anmutet, ist es ja eigentlich gar nicht. Man gibt dem Kind einfach einen neuen Namen. Oder? Naja, wie man’s nimmt. Für manche ist es vielleicht eine ganz natürliche Art zu unterrichten, Unterricht, wie sie ihn schon immer gemacht haben. Für andere vielleicht nicht.
Was versteckt sich aber dahinter? Das Prinzip des auf den Kopf gestellten, umgedrehten Unterricht ist eigentlich einfach: Man nimmt die Wissensvermittlung, die traditionellerweise im Klassenzimmer stattgefunden hat, und verlegt sie nach außen. Die Wissenskonstruktion, die Schärfung einzelner Kompetenz hingegen holen wir ins Klassenzimmer. Beispiel gefällig?
Wir neigen dazu, einzelne Kapitel der Grammatik immer und immer wieder zu erklären. Die Verwendung der Zeiten der Vergangenheit (imparfait – passé composé), die Verwendung des congiuntivo, die Unterscheidung von sin (sitt, sina) und hans (hennes, deras)… Und da wäre auch die Bildung unterschiedlicher Zeiten. Wie mache ich ein Adjektiv aus einem Adverb? Und wann verwende ich gleich noch mal ein Adverb? Was wäre, wenn wir die Schüler*innen Videos ansehen lassen, in denen die Grammatik erklärt wird. Und wir üben sie dann gemeinsam im Klassenzimmer? Bislang ist es doch meist so: Wir erklären während der Stunde. Die Schüler/innen bekommen ein Arbeitsblatt mit nach Hause, das sie als Hausübung machen. Beim Ausfüllen kommen Fragen auf, die die Schüler*innen eher selten aufschreiben. Vielleicht fragen sie in eine WhatsApp-Gruppe…. Vielleicht kommt die Frage doch irgendwie zur Lehrperson… Beim Erarbeiten des Inhalts, beim Erarbeiten der Theorie können gezielt Hilfestellungen gegeben werden. Wenn die Schüler*innen irgendwas nicht verstehen, können sie die Lehrperson stoppen. Sie können zurückspulen, sie können aber auch vorspulen. Dem Lernen im eigenen Tempo ist nichts in den Weg gelegt. Wenn Fragen auftreten, das Video nicht verstanden wird, dann lässt sich das auch in der nächsten Stunde ausdiskutieren. Die gemeinsame Zeit mit den Schülerinnen und Schülern wird jedenfalls dafür genutzt, MIT ihnen und nicht VOR ihnen zu arbeiten.
Durch die Videos bekommen die Schüler*innen nicht nur mich und meine sprachlichen Marotten als Input, sondern auch andere Sprachlehrende, oder auch Native Speakers, die die Kapitel erklären und didaktisch aufbereiten (einige Beispiele). Meine Aufgabe als Lehrperson ist vielleicht die didaktische Einbettung. Wie bringe ich die Videos methodisch ins Klassenzimmer? Wie kann ich den Wissensgewinn oder den Kompetenzerwerb überprüfen? Wie kann ich überprüfen, ob die Schüler*innen die Aufgaben auch wirklich gemacht haben? Das alles sind Fragen, die mich als Lehrperson fordern. Ich gebe die Verantwortung nicht ab, ich werde durch die Videos nicht abgelöst. Meine Funktion im Lernprozess verändert sich jedoch. Ich bin Ansprechperson, muss mich vielleicht kniffligen Fragen stellen. Ich muss auch Fehler neu bewerten, denn sie zeigen den Lernfortschritt, den Lernstand an. Sie sind ein Indiz für die Weiterentwicklung, oder eben nicht. Sie sind jedenfalls nicht per se schlecht.
Wie oft beschweren wir uns, dass unsere Schüler*innen in der Fremdsprache zu selten zu Wort kommen? Vielleicht liegt es daran, dass sie uns zu oft zuhören (müssen). Wir sollten die Zeit mit den Schüler*innen aktiv nutzen. Wir sollten die Schüler*innen aktivieren. Lernendenzentrierter Unterricht, Binnendifferenzierung, Individualisierung… Das sind die dazugehörigen Schlagworte. Um die es aber gar nicht geht. Wir wollen kein Buzzword-Bingo spielen. Wir wollen unsere Schüler*innen dabei helfen, sich selbst Inhalte zu erarbeiten, diese kritisch zu hinterfragen, nichts als gegeben und gegessen hinzunehmen. In Zeiten von Standardisierung sollten wir uns die Frage der Individualisierung stellen. Wie kann ich meine Schüler*innen gezielt fördern? Möglichst effizient?
Es geht nicht darum, was die anderen Schüler*innen machen, während ich auf einzelne Fragen eingehe. Sie helfen einander. Sie arbeiten selbstständig. Vielleicht starren sie auch in die Luft, weil sie gerade eine Pause brauchen. Es geht nicht um das ständige Dabeisein. Es geht um den Kompetenzerwerb, die Stärkung der eigenen Fähigkeiten. Es geht darum, den/ die Lerner*in als Individuum wahrzunehmen. Ihr/ihm gezielt zu helfen, auch kritische Fragen zuzulassen. Gerade in Sprachen gibt es die eine richtige Lösung meistens nicht.
Ich will gar nicht auf die Tools eingehen, mit denen man Videos produziert. Das machen Joe Buchner und Stefan Schmid in ihren Fortbildungen, auf ihrer Webseite und auch im eben gesehenen Webinar. Das macht Paul Kral (@knowlearnlead) auf seinem Blog, ebenso Alicia Bankhofer (@aliciabankhofer) auf ihrem (um zwei weitere österreichische Flipped-Classroom-Profis zu nennen). Und sie haben dabei für unterschiedliche Nutzer*innen unterschiedliche Lösungen: kommerzielle, kostenfreie, aufwändige und intuitive. So soll es sein. Denn wie schon mehrfach betont: Eierlegende Wollmilchschweine sind Wunschgedanken.
Aber vielleicht so viel zum Webinar: Schon alleine der Gedanke, dass Schüler*innen für ihre Kolleginnen und Kollegen Videos erstellen, sollte uns zu denken geben. Lernen durch Lehren. Auch gute Wissenschaftler*innen stoßen immer wieder an ihre Grenzen, wenn es darum geht, Inhalte so aufzubereiten, dass sie auch verstanden werden. Wie oft merken wir, dass wir etwas vielleicht doch nicht so gut verstanden haben, erst wenn wir es anderen erklären wollen? Ja, das Produzieren von Videos ist aufwändig. Aber es lohnt sich. Medienkompetenzen werden gleichzeitig geschult. Wie lange soll so ein Video denn sein? Wie soll die Gestaltung sein? Wie soll gesprochen werden? Wie klingt eigentlich meine Stimme? Was, so schnell rede ich eigentlich? Welche Inhalte darf ich urheberrechtlich betrachtet verwenden? Wo finde ich derartige Materialien? Darf ich eigentlich Menschen in meinen Videos zeigen? Was kann ich dabei falsch machen?
PS: So zwei bis fünf Minuten, oder fünf bis zehn Minuten sind es übrigens… Je nach Quelle 😉 Ich hab dazu schon mal was geschrieben…
PPS: Man kann eigentlich nur eine Sache falsch machen: Es nicht zu probieren. Es geht nicht darum, seinen Unterricht zu 100% in den Flipped-Modus zu stellen. Vielleicht eignen sich einzelne Einheiten? Vielleicht eignet sich eine Einheit? Vielleicht auch ein ganzes Themengebiet. Wie so oft gilt jedenfalls: Probieren geht über Studieren. 😉
PPPS: Ach ja, und habt ihr schon mal dran gedacht, auch Inhalte zu transportieren. Ich meine zum Beispiel kurze Texte, die der Wortschatzarbeit dienen? Nein. Glaub ich nicht, denn Podcasts und Vodcasts setzen viele von euch ein. Um sie im Flipped Classroom zu nutzen, brauche ich nicht viel. Ich brauche eine Didaktisierung und ein didaktisches Konzept. Aber das brauch ich auch für einen Text. Ich überlege mir Arbeitsaufträge („Schreibt eine Best of-Liste zu xy.“ oder „Formuliert einen Merksatz zum Thema.“) und formuliere Fragen, die beantwortet werden (sollen).
PPPPS: Schaut doch auch mal bei Bob Blume vorbei. Er gibt Schülerinnen und Schülern wertvolle Tipps, wie sie sich einer Gedichtinterpretation als der Arbeit am konkreten Text annähern können. Auch dieses Handwerkszeug kann ich auf außerhalb verlagern, während eine gemeinsame Interpretation dann im Klassenzimmer erfolgt….
Update: Hier ein Beispiel eines Französisch-Kollegen: Marek Müller: Erklärvideo im Fach Französisch – Die Verneinung mit ne…pas. Ein feines, anschauliches Video zur Verneinung – erklärt mit einem Burger.