Lesen | Vortragen wie ein Roboter oder eine Priesterin? Wtf?

Das laute Lesen ist nicht nur in der Zweit- oder der Drittsprache eine große Herausforderung. Auch in der Erstsprache stellt es so manche*n vor Probleme. Eine Möglichkeit, die Angst abzulegen: Rollensprech.

Meine Wahrnehmung

In der Schule hatten wir, wenn wir in der sechsten Stunde Deutsch hatten, immer eine Lesestunde. Wir hatten ein Buch und jede*r von uns musste ein Kapitel laut vorlesen. Das war mühsam. Nicht nur für die Person, die lesen musste, sondern auch die Zuhörer*innenschaft. Liest jemand eher unsicher, nicht flüssig, fällt das Zuhören schwer. Und man merkt sich wenig. So wie man sich auch als lesende Person wenig merkt.

Ähnlich komme ich mir heutzutage manchmal auf Konferenzen vor. Vortragende, die unsicher und nervös sind, deren Stimmen versagen, die Wörter und Sätze unnatürlich betonen, obwohl sie den Vortrag wahrscheinlich hundert Mal gelesen haben. Für die Vortragenden wahrscheinlich genauso mühsam wie für die Zuhörenden.

Im Internet finden sich viele Tipps zum Lesen schwieriger Texte und Strategien, um Lese-, Vorlese- und Vortragskompetenzen aufzubauen. Ein kleiner Auszug:

Meine Lösung

Ich habe mir vor Jahren, als ich noch mehr journalistisch unterwegs war, eine Methode zurechtgelegt, wie ich Gelesenes natürlicher rüberbringen kann und die Angst vor dem Vorlesen ablegen kann. Ich mochte das Vorlesen auch nie wirklich und suchte für mich nach Trainingsmöglichkeiten. Ich wollte Lebendigkeit in meinen Vortrag bringen, ohne übertrieben zu wirken. Ob ich es geschafft hab, können alle, die mir schon mal zuhören mussten, gerne selbst beurteilen. Ich habe meine Methode aber an meine Studierenden weitergegeben und auch mit Schüler*innen in der Zweit-/Drittsprache erprobt.

Quelle: Pixabay

Ich nenne die Methode Rollensprech. Ich habe nicht überprüft, ob dieser Name besetzt ist. Ich mag ihn. Er drückt nämlich aus, was ich damit bezwecke.

Rollensprech: Ablauf

  • Man nehme einen x-beliebigen Text und liest ihn, ohne Vorbereitung, laut vor. Dabei nimmt man sich auf (z.B. mit Vocaroo oder dem Diktiergerät des Smartphones).
  • Man liest den Text in verschiedenen Rollen, ohne sich dabei aufzunehmen:
    • als Roboterstimme
    • als Priester*in (von der Kanzel predigend)
    • als Fußballtrainer*in (in der Kabine, es ist Halbzeit, das Team liegt 0:1 hinten)
    • als Kleinkind (an der Kassa stehend und unbedingt die Schokolade haben wollend)
    • als Elternteil (ein kleines Kind tröstend, das gerade hingefallen ist)
    • als Oma/Opa (einem kleinen Kind eine Geschichte vorlesend)
  • Abschließend liest man den Text noch einmal ohne Rolle und nimmt sich wieder auf.

Wozu das alles?

Wenn man einen bekannten Text mehrfach liest, wird es langweilig und man wird schlampig/nachlässig. Man liest über schwierige Passagen, man wird unkonzentrierter. Durch das Konzentrieren auf die Rolle bleibt die Konzentration aufrecht. Man hat nicht das Gefühl, den Text fünf Mal gelesen zu haben, sondern man liest ihn jedes Mal anders und wieder aufs Neue.

Quelle: Pixabay

Die unterschiedlichen Rollen sind aufgrund von Intonation und Artikulation gewählt. Die Monotonie und klare Silbentrennung der Roboterstimme, die singend-theatralische Version von der Kanzel, die emotionale Ebene in der Fußballkabine, das Auf-den-Boden-Stampfen des Kindes, die beruhigende Stimme des Elternteils. Es geht um das Segmentieren von Silben, Tonhöhen und Geschwindigkeiten. Es geht um den Rhythmus und die Lautstärke.

Warum Vocaroo?

Ich mag Voraroo, weil es so intuitiv ist (kein Schnickschnack rundherum) und die Aufnahme als mp3-Datei heruntergeladen werden und anschließend gelöscht werden kann. Zudem nutze ich es auch für Feedback und in anderen Kontexten (Blogpost hierzu folgt). Im Unterricht verwende ich meist aber das Smartphone der Schüler*innen bzw. lasse sie das Smartphone verwenden.

Fazit?

Ich verwende die Methode seit knapp zehn Jahren mit Studierenden und Schüler*innen. Die zweite Aufnahme ist meist kürzer, jedenfalls flüssiger und in der richtigen Betonung gelesen. Sind Dialoge im Text, werden diese mit verteilten Rollen, d.h. unterschiedlichen Stimmen, gespielt. Die Lerner*innen haben, nach anfänglicher Skepsis, jedenfalls meist Spaß bei der Übung und lesen den Text mehrfach, ohne genervt zu sein. 

Einige Rückmeldungen zeigen auch, dass die Aufnahmen länger werden. Dann nämlich, wenn die erste Aufnahme besonders hektisch und schnell gelesen war. Das ist jedoch eher selten.

Und sonst?

  • Als Tipp vielleicht, dass man Platz braucht. Beim Einlesen für die Aufnahmen brauchen die Lerner*innen eine gewisse Ruhe, ebenso für das Rollenlesen. Sonst kommt man sich vielleicht auch ein wenig bloßgestellt vor.
  • Ich lasse einzelne Lerner*innen auch in den unterschiedlichen Rollen laut lesen, wenn sie es freiwillig machen. Wenn das Eis einmal gebrochen ist, entwickelt sich hier eine Dynamik, die durchaus entspannt und theatralisch ist (aus meiner bisherigen Erfahrung).
  • Ich lasse mir die Aufnahmen nicht abgeben, sondern eine kurze Zusammenfassung, welche Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Aufnahme erkennbar ist. Damit müssen die Lerner*innen genau zuhören und ihr eigenes Lesen auch reflektieren.

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